„Hexenhäuschen“ aus Lebkuchen

Ein kleiner architektonischer Exkurs in der Weihnachtszeit… 😉

Knusper, knusper, knäuschen…

Wie kommt das Lebkuchenhaus aus dem Märchen in die Weihnachtszeit? Eine Spurensuche in der Backstube.

Mit Michael Nick kann man intensiv über die architektonischen Besonderheiten von Häusern diskutieren. Da geht es um Dachschrägen, Firste, Überstände und natürlich um die Funktion von Form und Design. Nick kennt sich aus, er ist Baumeister und kommt im Jahr auf gut und gerne 70 Häuser, und zumeist sind sie binnen weniger Wochen errichtet. Allerdings sind seine Häuser relativ klein und nicht sehr langlebig. Dafür sind sie zu lecker.

Nick baut im Auftrag des Cafés Breuer in Bonn von Mitte November bis Weihnachten eine Vielzahl von Hexenhäuschen aus Lebkuchen oder Schokolade. Und inzwischen sei dieses Häuschenbauen eine Wissenschaft geworden, sagt Nick. Das Gespräch gipfelt in dem Satz: „Jedes Häuschen ist anders.“ Man kann es schnell und lieblos machen, dann wird es austauschbar, uniform, langweilig. Und schmeckt nach Pappe. Oder man läßt sich Zeit, geht mit Akribie und Liebe ans Werk, und am Ende steht fast ein kleines Kunstwerk.

Vieles von dem, was man aus Zucker, Nüssen, Schokolade, Mandeln, Vanille und Malz herstellen kann, ist im Winter beliebter als im Sommer. Doch ansonsten hat das mit Weihnachten nicht so besonders viel zu tun.

Hexenhäuschen gibt es seit Jahrhunderten, immer waren sie in der Zeit vor Weihnachten ein Geschenk – für Arme, für Kinder, von Untertanen für ihre Grundherren oder für hochgestellte Würdenträger. Die Qualität der Lebkuchen konnte dabei, je nach Wertschätzung des Empfängers, variieren. Der Grundsubstanz aus Mehl, Eiern und Honig werden Mandeln, Zitronat, Nüsse und Gewürze wie Zimt, Muskatnuß, Ingwer und Nelken beigegeben. „Apfel, Nuß und Mandelkern essen fromme Kinder gern“, heißt es nicht umsonst in Theodor Storms Gedicht „Knecht Ruprecht“.

Warum aber nun ausgerechnet ein Hexenhaus aus Lebkuchen gebastelt wird, ist nicht ganz geklärt. Wahrscheinlich geht es auf das von den Brüdern Grimm niedergeschriebene Märchen von Hänsel und Gretel zurück, worin ja eine Hexe vorkommt, die in einem zum Anbeißen verführerischen Häuschen lebt. Mit der Folge, daß Hänsel und Gretel Mundraub am Hexenhäuschen begehen.

Doch die Grimms ihrerseits haben wohl geklaut, nämlich die Idee vom Lebkuchenhäuschen. Das komme in spätmittelalterlichen Darstellungen des Schlaraffenlandes vor, sagt Alois Döring vom Rheinischen Amt für Landeskunde in Bonn. Auf Bildern von Pieter Breughel seien solche Häuser zu sehen. Und Hans Sachs schrieb im „Schlaraffenland“: „Da hat er Speis und Trank zur Hand; da sind die Häuser gedeckt mit Fladen, mit Lebkuchen Tür und Fensterladen.“ Jedes Kind hat genau diesen Haus-Typus vor Augen, wenn vom Hexenhaus die Rede ist.

Und genauso sehen auch die Häuser aus, die Michael Nick und seine Kollegen zusammenbasteln. Schließlich war auch Nick einmal Kind, und damals entwickelte er eine bestimme Vorstellung vom Knusperhäuschen im Grimmschen Märchen. Zum Hexenhausbaumeister wurde der 40jährige Konditor freilich nicht über Nacht, und er hat es auch nicht erfunden.

Aber zur Perfektionierung seiner Baukunst bereiste er gerade so wie ein fahrender Zimmermann ganz Deutschland. Allein für die Herstellung der verwendeten Marzipanfigürchen bedarf es einiger Spezialkenntnisse. Natürlich müsse man dabei wie beim Hexenhausbau rationell arbeiten, sonst dauere ein Haus mehrere Stunden und sei am Ende zu teuer und damit wohl unverkäuflich.

Dennoch muß jedes einzeln ausgeschnitten, gebacken, mit Schokolade bestrichen werden. Sodann wird es mit eigens hergestelltem Gebäck, Marzipan und Baiserkringeln verziert und zusammengeklebt. Und schließlich mit Zuckerguß begossen, damit die Illusion der weißen Weihnacht hergestellt ist – denn weder im Grimmschen Märchen noch im Schlaraffenland fällt Schnee. Nur mit den rechten Winkeln und lotrechten Wänden nimmt Nick es nicht gar so genau. „Schief darf es ruhig sein, es ist ja ein Hexenhaus“, sagt er.

Anders als die normalen Lebkuchen könne man Hexenhäuschen erst ab November verkaufen, sagt Nick. Denn der Lebkuchen an sich ist ja keine reine Weihnachtsspeise. Es gibt und gab ihn in Deutschland schon immer zu jeder Jahreszeit, mal als Honigkuchen und in Aachen als Printe. Und erfunden wurde er übrigens weder von den für ihre Lebkuchen berühmten Nürnbergern, noch von den Aachener Printenbäckern. Honigkuchen gab es schon vor Jahrtausenden im Orient und später auch zur römischen Kaiserzeit.

Wie aber kommt der Lebkuchen in unsere Weihnachtszeit hinein? Auch Alois Döring vom Rheinischen Amt für Landeskunde bleibt eine genaue Antwort schuldig und muß auf Spekulationen ausweichen. Er vermutet, daß die besonderen Gewürze und ihre schweren, aufdringlichen Düfte gut zu Weihnachten passen. Gewürze, die kostbar und eben nicht alltäglich sind – genau wie die begrenzte Weihnachtszeit, an der es eben etwas Kostbares zu essen geben muß. Doch genaueres weiß wohl nur der Weihnachtsmann. Aber den gibt es ja gar nicht. Oder?

 

Ein Text von Robert Lücke veröffentlicht am 25.12.2005 bei Welt am Sonntag / WeltN24 GmbH, Foto: S.Collerius